Text:Hansen Friesische Sagen 1858
[I]
Friesische
Sagen und Erzählungen
von
C. P. Hansen
auf Sylt.
- - -
Altona
Wendeborn'sche Buchhandlung.
---
1858.
[II]
[III]
Die Hörnumer.
Sagen und Erzählungen
der Strand- und Dünenbewohner
so wie
der Haidebewohner auf Sylt.
- - -
von C. P. Hansen
auf Sylt.
[IV]
"Lewwer duad üs Slaaw !"
Altfriesischer Wahlspruch.
[V]
Vorwort. Von Seite III - XI incl.
I. Sagen und Erzählungen der Rantumer und
Eidumer.
I. Einleitung. Der Untergang von Alt-List. Von
Jens Lüng und dessen Familie, dessen Ansiedelung
auf Hörnum. Die Einführung der papistischen
Lehren und Priester, der Heiligen- und Bilder-
Verehrung auf Sylt. Jens Lüng's und seiner
Tochter Tod . . . . . Seite 1—24.
II. Von Jakob Leiert und seiner Braut, von seinen
Versuchungen durch die Hexen. Von den Sylter
Heringsfischern. Von dem Untergange Alt-
Rantums und Eidums. Von den Likendehlern
(Vitalinern) auf Hörnurn. Von katholischen Prie-
stern in Rantum. Von Maiken Niß Taken und
ihren Abenteuern . . . . . Seite 24—57.
III. Hindernisse des Verfassers. Von einem See-
und Strandgefecht unweit Rantum und dessen
Folgen. Von der Familie Lassen. Von dem
heidnischen Biikebrennen. Von dem Abenteuer
einiger Knaben auf Hörnum. Von der Größe
und der Zerstörung Alt-Rantums. Von dem
Leben der übrig gebliebenen Fischer daselbst, deren
[VI]
Ansiedelung und Freuden im Kressen Jakobsthal
auf Hörnum. Von den Anfechtungen der Hör-
numer Fischer durch Priester, Hexen und Vögte.
Pidder Lüng's Jugendgeschichie. Aufruhr und
Todtschlag auf Hörnum. Flucht und Hinrichtung
vieler Hörnumer . . . . . Seite 57 — 101.
IV. Die Abnahme Nau-Rantums. Die Entstehung
und Zunahme Neu-Eidums oder Wrsterlandes.
Die Familien Hahn, Prott und Mannis in Wester-
land. Die Geschichte des Seeräubers und Freiheits-
kämpfers Pidder Lüng aus Hörnum. Sein Sieg
über die Holländer auf dem Zuidersee, sein Kampf
gegen die Vögte auf Sylt und sein Tod am Galgen.
. . . . . Seite 101 — 123.
V. Von Puanstöven. Von Pua Moders, dessen
Abkunft, dessen Spottsucht, Schalkstreiche, Aben-
teuer, schadenfrohe und rachsüchtige Unterneh-
mungen, dessen Fahrten nach Föhr, Nordstrand
und Römöe, und was er dort, sowie auf Sylt
ausgerichtet hat. Sein Tod. . . . . . Seite 123 – 147.
II. Sagen und Erzählungen der Haidebewohner
auf Sylt. . . . . . Seite
1. Der Meermann Ekke Nekkepennn 148 — 152.
2. Der Meermann und die Zwerge
auf Sylt . . . . . 152 — 162.
3. Die Zwerge im Kampf mit den
Riesen auf Sylt . . . . . 162 — 182.
4. Die friesischen Riesen im Kampf
mit den Dänen . . . . . 182 – 188.
Schlußwort . . . . . 188 – 194.
[VII]
Als meine Chronik der friesischen Uthlande
durch den Druck veröffentlicht worden war, wurde ich
mehrfach aufgefordert, auch die hiesigen S a g e n zu sammeln,
zu ordnen und der Mit- und Nachwelt zu überlassen. Ich
gestehe, es hätte mir nicht leicht eine angenehmere Aufgabe
gestellt werden können, als eben diese. Ich darf mir aber
auch nicht verhehlen, daß viele meiner Landsleute die Be-
deutung einer solchen Arbeit nicht erkennen, vielIeicht gar
die Sache mit mißtrauischen Augen betrachten werden.
Vor diesen möchte ich mich rechtfertigen durch offene Dar-
legung meiner Gedanken über die Bedeutung und den
Nutzen der Sagen überhaupt, sowie meiner Absichten bei
der vorliegenden Arbeit insbesondere.
Wenn ein Volk auf der Höhe der Cultur und Macht
steht, so bedarf es zu seiner Bildung und Veredlung ohne
Zweifel nicht der gemüthlichen Sagen des Alterthums:
es hat eine Geschichte und macht eine Geschichte.
Wenn aber ein kleines, zersplittertes, einem wahrschein-
lichen Untergange entgegen gehendes Volk ohne eine selbst-
ständige Stellung und Geschichte lebt, so darf es nach
meinem Dafürhalten kein Mittel zu seiner geistigen nnd
gemüthlichen Erhebung und Vereinigung, und wäre es
[VIII]
ein noch so geringes, wenn es ihm zu Gebote steht, ver-
schmähen. Wir Friesen und namentlich wir Jnsel-
friesen sind aber, wie mir scheint, eben in einer solchen
Lage. In Ermangelung einer wirklich eigenen in’s Alter-
thum hinein reichenden Geschichte kann und muß die
S a g e die Geheimnisse, die Heiligthümer unserer Heimath
und unserer Vorfahren aufbewahren und uns aufschließen;
sie muß das Bewußtsein unserer Abkunft und Nationalität
erhalten und stärken helfen; sie hilft die Getrennten min-
destens geistig verbinden und sie erfrischt und erheitert so
oft die Gemüther der wirklich Verbundenen in den sonst
so langweiligen Winterabenden; sie bringt uns reichen
Stoff zu weisen Gedanken, spornt vielleicht zu edlen Vor-
sätzen und Thaten uns an oder erfüllt uns mit poetischen
und religiösen Bildern. — Solchen Werth hat die Sage
— ich meine natürlich die heimathliche —- in meinen
Gedanken.
Ich habe denn versucht, eine Sammlung der besten,
einigermaßen historisch begründeten, S a g e n meiner Hei-
math zu machen und lege sie hiermit den Landsleuten und
andern Lesern vor.*) Ich habe mich im Geiste zurück-
versetzt in jene glücklichen Tage meiner Kindheit, in jene
trauten Kreise, in welchen mir die Geheimnisse, ich möchte
sagen, die Heiligthümer meiner Vorfahren, meiner Insel
und meines Volksstammes zuerst offenbaret wurden; habe
---
*) Ich hatte anfänglich mir vorgenommen, die heimathlichen
Sagen in der sylter-friesischen Mundart zu schreiben, allenfalls
eine deutsche Uebersetzung derselben hinzuzufügen, allein der zu
bearbeitende Stoff und die Schwierigkeit der Bearbeitung des-
selben in einer uncultivirten Sprache wuchsen mir und meiner
beschränkten Zeit nur zu bald über den Kopf, so daß ich minde-
stens vorläufig von diesem anfänglichen Plane abstehen mußte. ––
(Siehe den Anhang.)
[IX]
noch einmal sie selber erzählen lassen, die schlichten
Strand- und Dünenbewohner, die ächtfriesischen,
treuherzigen, ich möchte sagen, kindlich gemüthlichen
Sagenerzähler und Erzählerinnen meiner lieben
Heimathinsel. Denn dort in den einsamen, westlichen, dem
Untergange geweiheten und vielleicht schon nahen Gegenden
Sylts, unter den Menschen, die einfach nach alter Weise,
aber unter den Einflüssen großer Natur-Ereignisse fast
beständig leben, findet man die Sage noch oft rein und
ungetrübt erhalten. — Ich halte überdies mich verpflichtet,
einer mir von meiner Jugend her besonders lieben und
interessanten, aber ohne Zweifel ins Meere bald unter-
gehenden Halbinsel, nebst deren fast noch interessanteren
einstntaligen Bevölkerung eine Erinnernngstafel zu setzen,
und zur Erfüllung dieser Pflicht ist die vorliegende Schrift
zunächst bestimmt. —— Die Halbinsel, welche ich aber
meine, ist das sand- und hügelreiche Hörnum, die süd-
liche, schmale, aber 2 1/2 Meilen lange Ecke der Insel
Sylt, und unter den Bewohnern dieser Halbinsel,
denen ich hierdurch ein Andenken stiften und bewahren
möchte, verstehe ich die Alt-Rantumer und Eidumer
oder die Hörnumer.*)
Es gewährt mir diese Arbeit freilich zugleich eine
wehmüthige Erinnerung an das fortwährende Zerbröckeln
und an den endlichen völligen Untergang aller friesischen
Inseln oder Uthlande, vielleicht mit deren Bewohnern,
und nicht blos an jene wohl aberglänbigen und rohen
---
*) "Hörn" ist friesisch, heißt auf Deutsch "Ecke". Die
Endung "um" bei so vielen Ortsnamen im Friesischen hat ohne
Zweifel gleiche Bedeutung mit dem deutschen "heim" oder
dithmarsischen "hamm", auch mit der englischen Endung
"ham" vielleicht.
[X]
aber sonst geistig begabten und unverfälschten Hörnumer
die nun fast alle dahin sind und deren Heimathdorf und
Land, aller Wahrscheinlichkeit nach, sie nicht lange über-
dauern werden. Denn jede Fluthwelle der Nordsee,
welche an die langen Sandufer Hörnums schlägt, nagt
auch daran und reißt Theile davon ab, und eine Sturm-
fluth spült oft ganze Berge Sandes in den weiten Schoß
der Nordsee. Von den einstmaligen Dörfern und Wohn-
stätten Hörnums sind nur noch 6 Hütten übrig und die
einstmaligen Bewohner schlummern den Todesschlaf mehren-
theils schon lange — nach der Sage — in den Netzen
und Armen der beutegierigen Meeresgöttin Ran.*)
— Nach 50 Jahren wird das einzige kleine noch übrige
Dorf auf Hörnum (ich meine Neu-Rantum) ver-
schwunden und nach 100 Jahren vielleicht die ganze
Halbinsel Hörnum nicht mehr sein. Dann würde man
nach abermals 100 Jahren vielleicht vergeblich fragen:
"Wo hat das Land Hörnum, das einst so seltsame, an
Dünen und Sagen reiche Land gelegen? Wo haben die
heldenmüthigen aber räthselhaften Hörnumer gewohnt?"
— wie man vergeblich nach dem versunkenen Thule
und anderen verschwundenen Ländern forscht — wenn
nicht diese Blätter oder andere davon Kunde geben. —
Die Mythen der Altsylter Heiden erzählen nun, wie
die Elementar-Götter oder Geister auf dem wüsten
Hörnum besonders ihre Herrschaft hatten. So wie die
Menschen weichen oder aussterben in einer Gegend, so
wird das Land, wie man spricht, ein Wohnplatz der
Geister und Unholde der Nacht; von Hörnum aber
---
*) Rantum möchte seinen Namen nach der heidnischen
Göttin Ran, sowie das einstmalige benachbarte Eidum seinen
Namen nach dem Meeresgotte Eiger, Ägir oder Ögis haben.
[XI]
scheinen die Phantasiewesen der Heiden eigentlich niemals
gewichen zu sein. In diesem wilden Dünenlande wimmelt
es daher, der Sage nach, von Hexen und Wiedergängern,
von spukenden Lichtern und gespenstigen Thieren, doch
scheinen die Wassergeister dort die Oberherrschaft zu haben.
Die unterirdischen Erdgeister, (Önnereersken)
lassen zwar in den Dünengegenden Hörnums kein Wasser
in den Grund sinken, sondern treten es immer wieder
hervor und veranlassen die Quellen und Sümpfe dort;
der Mann im Monde gießt überdies alle 12 Stunden
Wasser vom Himmel herab und veranlaßt die Fluthen;
allein die Meeresgöttin Ran, die gebärende Gattin
des Eigir oder Ekke (Ögis) erregt die Stürme im
Meere, veranlaßt die Überschwemmungen und Schiffbrüche.
zieht die Schiffbrüchigen in ibre Netze und wirft die
Schiffstrümmer, die sie selber verschmähet, bei Hörnum
an den Strand. Der Meeresgott selber scheint aber
vor Alters Hörnum zu einem Lieblingsaufenthalt aus-
ersehen zu haben,*) es heißt sogar, nach der Sage, daß
er sich unter den Hexen oder Jungfrauen Rantums, die
freilich auch Ran’s Schule besucht hätten und sich in Meer-
jungfern und Thiere zu verwandeln, Stürme und Schiff-
brüche zu veranlassen vermochten, einst eine Geliebte ge-
wählt habe. Doch heißt es auch, daß es die Jungfrau
bald gereuete, sich ihm ergeben zu haben und daß sie
trachtete, von ihm wieder los zu kommen. Ekke gelobte
ihr endlich, wenn sie ihm seinen vollen Namen nennen
könne, so solle sie wieder frei werden. Sie konnte es
---
*) Er tritt — freilich sonderbar genug — in den Sagen
der Rantumer überdies (in der päpstlichen oder katholischen Zeit)
als böser Zauberer und Priester, Namens Einerlei, auf. Doch
Sind die Sagen unbestimmt, etwas verworren über ihn.
[XII]
lange nicht erfahren, wie ihr Freier hieß, obgleich sie
schwermuthvoll die einsamsten Örter aufsuchte und auf
jeden Laut der Natur lauschte. Endlich hörte sie auf
einer einsamen nächtlichen Wanderung an dem Meeresufer
tief unten in einem Sandhügel folgenden Gesang:
- "Delling well ik bruu;
- Miaren well ik baak;
- Aurmiarn well ik Bröllep maak.
- Ik jit Ekke Nekkepenn;
- Min Brid es Jnge fan Raantem,
- En dit weet nemmen üs ik alliining.*)
Jetzt kehrte sie fröhlich zurück und sprach bei ihrer Zusammen-
kunft mit dem verliebten Meeresgott: "Du heißt Ekke
Nekkepenn und ich bleib' Jnge von Rantum." —— Alsbald
verließ der Meergeist sie und kehrte nimmer wieder zu ihr
zurück als Freier. Wohl aber hat er an ihr und ihrer
Heimath des Korbes wegen später schmähliche Rache geübt
und durch seine dienstbaren Stürme, Meereswellen, Fluthen
und Strömungen Rantum zerstört. – Gleichsam als
Gegensatz dieser heidnischen bösen Wesen sprechen die
Dünenbewohner Hörnum’s auch von einein guten Geiste
einer weißen Frau, welche als trauernder Schutzgeist die
verlasseuen oder untergegangenen einstmaligen Wohnstätten
der Menschen umschwebt. Sie nennen dieselbe das
Stademwüfke, beklagen es aber, daß dieselbe immer
seltener den Menschen dort erscheint.
---
- *) Heute will ich brauen;
- Morgen will ich backen;
- Übermorgen will ich Hochzeit machen.
- Ich heiße Ekke Nekkepenn;
- Meine Braut ist Jnge von Rantum,
- Und das weiß niemand als ich allein.
[XIII]
So ist es bisher mit Rantum auf Hörnum ge-
gangen und so möchte es dereinst mit meiner ganzen
Heimath gehen. Alle friesischen Uthlande werden ohne
Zweifel dereinst eine Beute des Meeres werden. Das ist
wahrlich ein trauriger Gedanke, der mich oft beschäftigt
und quält!
Jedoch, ich bin vielleicht zu befangen, zu kurzsichtig,
zu engherzig bei dem Gedanken, daß mein theures Friesen-
land sowie dessen Volk und Name, dessen Güter, Rechte,
und Eigenschaften fortdauern müssen, wenn ich (als pa-
triotischer Friese) in dem Weltall noch Ordnung, noch
die Weisheit und Güte des Weltregierers erkennen und
verehren soll. —— Ich sollte —— ich sehe es ein — eine
höhere Welt-Anschauung gewinnen, wie schwer das auch,
von dem Standpunkte eines ungelehrten Jnselfriesen aus, mir
fallen mag. Ich sollte bedenken, daß ein Volk zu jeder
Zeit nur in einer Uebergangsperiode seiner Geschichte lebt,
nie aber eine Stufe der Vollendung erreichen, nie in
einen Zustand der Vollkonnnenheit gelangen wird, also
auch mein Volk nicht. Jch sollte mich erinnern dessen,
was die Geschichte der Menschheit und der Natur überall
so eindringlich predigt: Reichthum vergeht, Schiffe zer-
trünnnern, Menschen sterben, Gesetze nnd Begriffe wechseln,
Dörfer, Städte, ja ganze Länder werden zerstört, Ver-
fassungen, Staaten, Sprachen, Religionen, ja ganze Völker
verschwinden von dem Erdboden — und ich wollte in
dieser Welt voll Verwüstung auf etwas Dauerndes, auf
etwas Ewiges rechnen? — wollte für die kleinen, schwachen
Land- und Volkstrümmer meiner Heimath mitten in dem
gewaltigen, sturmreichen Nordmeere Bestand erwarten? —
wollte gar für meine und meines —— freilich sich nie recht
einigen — Volkes Ideen, Wünsche und Hoffnungen,
[XIV]
wenn sie vielleicht, wie so oft der Fall, denen der um-
wohnenden, viel mächtigeren, sich viel einigeren Völker
widersprechen, etwas fordern, was die ganze Welt nicht
hat und nicht geben kann?! — Ich sollte lehren und
nicht lernen wollen? – Nein, ich will mich erheben,
will mich trösten und beruhigen bei dem Gedanken: Es
liegt eben das Wandelbare- das wechselseitige Entstehen
und Vergehen der Dinge und Erscheinungen in dem Plane
des Schöpfers, damit Nichts veralte und hindere, damit die
Welt sich stets verjünge und verschönere, damit die
Menschheit nie in träge Ruhe und in ein Übermaaß der
Genüsse versinke, sondern immer zu neuem Streben ge-
zwungen werde. Gewiß wird dennoch die Vorsehung das
Wahre und Gute, auch das, was die Menschen gedacht,
gethan nnd erstrebt haben, nicht untergehen lassen in der
allgemeinen Verwüstung, sondern in immer neuen Formen
auftauchen und fortwirken lassen im Raume und in der
Zeit und das soll mir genügen!
Tritt nun mein friesisches Volk oder mein inselfrie-
sischer Volksstamm über kurz oder lang als eine
von anderen sich unterscheidende Nation von dem Schau-
platz der Welt ab: so möchte dieser Stamm den Keim
des Verderbens, des Veraltens, der Zwiespalt schon lange
in seinem Jnneren geborgen haben; muß, wenn nicht dem
Meere, einem andern Volke also weichen, oder, was wahr-
scheinlicher ist, von mehreren, mächtigeren Nachbaren gleich-
sam verschlungen werden.
Möchten nur jedenfalls die Reste meines Volks-
stammes, wie wenig Zusammenhang sie auch haben, wie
vereinzelt sie auch auftreten, die Tüchtigkeit und Treue,
den Fleiß und die Sparsamkeit, durch welche Eigenschaften
von Alters her so viele Friesen sich ausgezeichnet haben,
[XV]
stets bewahren! — Möchten sie als Seefahrer, unter
allerlei Menschen und Völker zerstreut, durch Geschicklichkeit
und Sittlichkeit der Seefahrerwelt auch künftig zum Muster,
zur Würze dienen! — Wahrlich, dann hätten die
Jnselfriesen noch eine hohe Bestimmung.
Was nun speciell das ältere Geschlecht der Hör-
numer, von welchem ich die Letzten desselben noch ge-
kannt habe, betrifft, so war dasselbe —— abgesehen von dessen
lobenswerthen Eigenschaften — doch in anderer Hinsicht
unbezweifelt, ähnlich seiner versandeten Halbinsel, seit lange
zum Untergange reif, d. h. insofern es in seiner Heimath
blieb; war gleichsam versteinert in alten, zum Theil rohen
Sitten, z. B. den Gewohnheiten der Stranddiebe, war
versumpft in den Ansichten und Grundsätzen des Aber-
glaubens; versank, wie es schien, immer mehr in Träg-
heit, Dummheit und Armuth — wäre mithin ohne Zweifel
dem moralischen Verderben, dem geistigen Tode verfallen
gewesen, wenn nicht der Weltenlenker den Kindern dieses
Geschlechtes andere und bessere Wege und Wohnstätten ge-
wiesen, die Alten aber von der Erde genommen hätte. —
Friede deren Asche! -—- -
Mögen aber ihre Sagen, ihre Scharen nnd
Schicksale uns andern Friesen im Andenken
bleiben zu unserer Warnung vor ihren Feh-
lern, sowie zu unserer Erhebung, Vereini-
gung und Befestigung im Guten!
[XVI]
[1]
Eidumer.
I. Als ich einst in meiner Jugend eine Reise nach
der schönen, vielgerühmten Jnsel Alsen an der schles-
wigschen Ostseeküste machte, führten meine dortigen
Freunde mich überall auf dem lieblichen Eilande umher,
um mir die Schlösser und anderen Wohnplätze, die
fructbaren Ackerfelder und Obstgärten der Einwohner,
sowie die Höhen und Thäler, die vielen anmuthigen
Buchenwälder und Erlengebüsche der Jnsel zu zeigen.
Man fragte mich, ob meine Heimathinsel — die der
Insel Alsen an der schleswigschen Westküste gegenüber-
liegende Jnsel Sylt — auch so schöne Gegenden auf-
zuweisen habe. Jch antwortete voll friesischen Selbstge-
fühls und mit vermeintlich großem Patriotismus: Schön
und lieblich ist die Insel Alsen; allein schöner und
interessanter halte ich die Jnſel Sylt und namentlich
die lange Dünenhalbinſel Hörnum, die südweſtliche
Ecke der Insel*). Alsen ist mir zu kunstvoll eingetheilt
---
*) Zu Hörnum im weiteren Sinne gehörten in alten Zeiten
die Kirchspiele Eidum, Rantum und Wardum (oder Wardün,
Warding). Nach Meier hieß Rantum: Hantum. Kielholt nennt
zwei Kirchen außer der zu Eidum, nämlich Westerseekirche und
Rathburgskirche um 1436 dort. Hörnum im engern Sinne ist
die lange Erdzunge, die sich nach Süden vom Dorſe Rantum
circa 2 Meilen erstreckt.
[2]
und angebaut, ist mir zu zahm, hat zu wenig reine
Natur, als daß es ganz nach meinem Geschmack sein
könnte. Das Liebliche, das Anmuthige, welches die
Bäume und Wälder Alsens gewähren, entbehrt freilich
meine Heimath; sie hat aber in der Reinheit und Wild-
heit ihrer Natur und in der Großartigkeit des sie um-
gebenden Meeres einen mir zusagenden Ersatz. Die
Dünen und Kliffe Sylts bilden ein kleines Gebirgsland
im Meere, welches die seltsamſten Hügelformen und Hü-
gelgruppen zeigt, mit den dazwischen liegenden Dörfern,
Feldern, Schluchten und Thälern eine höchst interessante
Abwechselung enthält und mit dem dasselbe zunächst
umgebenden Meere ein wildschönes Ganzes ausmacht.
Namentlich habe ich in Stürmen nie etwas Wilderes
und Großartigeres gesehen, als das aufgeregte, schäu-
mende Meer mit seinen haushohen Wellen, seinen noch
höher sich bäumenden, dann wasserfallartig niederstürzen-
den, weitschallenden Brandungen, und dazwischen die
gespenſtigen, nebelgrauen, durch die Wellen und den
Sturm tief aufgewühlten, rauchenden Sandberge, welche
nicht blos die Luft mit ihrem lockern Inhalte erfüllen,
sondern Massen desselben auf die Felder, in die Thäler
und in das Wasser schütten. Kommt nun die Nacht
hinzu mit ihren Schrecknissen, ihren Schiffbrüchen, ihren
Abenteuern, ihren Gespenstern und Sagen und ereilt
uns in solcher Gegend, so würde Mancher freilich sie
schauerlih finden; ich aber erkläre sie dann für roman-
tischwild, voll Poesie, Kraft und Leben. — Herrscht
aber Windstille und liebliche Frühlingsluft, so giebt es
gegentheils auch nichts freundlicheres als ein frisch grü-
nendes Dünenthal mit einem spiegelglatten Dünensee in
der Mitte, belebt von tausend singenden und schnattern-
[3]
den, schwimmenden und flatternden Vögeln aller Art,
von weidenden und blöckenden Schafen und Lämmern,
von fröhlichen, Eier suchenden oder Beeren pflückenden
Kindern, und: das Ganze eingerahmt und geschützt von
hohen, weißen oder grün bekränzten Hügeln. —
Dieses und Anderes erwiderte ich zum Preise meiner
Heimath.
Meine Haare sind unterdeß ergrauet, ich bin alt
geworden; meine Gefühle und Gedanken sind abgestumpft,
allein meine Erinnerungen an Hörnum sind dieselben
wie ehemals geblieben; meine Phantasie wird noch stets
lebhaft erregt, wenn ich mich in Gedanken in jenen
Spiel- und Tummelplatz meiner Jugend, in jene Gegend
voller Berge und Schluchten, voller Sagen und Aben-
teuer, aber auch voller lieblicher Dünenthäler und Vögel
versetze, und ich halte noch jetzt die Halbinsel Hörnum,
wenn auch nicht für die schönste, so doch für die inte-
ressanteste Gegend, die ich kenne. — Ein jeder Mensch
hat unbezweifelt wie jeder Ort sein Eigenthümliches
und selbst seine Sonderbarkeiten. Es mag daher meine
Vorliebe für das wilde, oft schauerlich und unheimlich
genannte, Hörnum zu meinen Eigenthümlichkeiten und
Sonderbarkeiten gehören. Es geht mir in diesem Punkte
eben nicht anders, wie so vielen Westsee-Jnſulanern.
Jn meinen Knabenjahren lauſchte ich mit großer
Begierde den Sagen und Erzählungen, namentlich der
alten Inge de Fries und Merret Siemons, welche man
aber gewöhnlich Inken Nefsen und Mei Siemken nannte
und welche sammt der noch ältern Mei Aanken in einer
einsamen Hütte mitten in einem Sumpfe am Fuße der
Rantumer Dünen wohnten. Wenn mein Vater, den
[4]
man oft den Probst von Hörnum nannte, an
Sonnabend-Nachmittagen die Jugend in Rantum exa-
minirte in den Catechismuslehren der chriſtlichen Reli-
gion*), dann lief ich unterdeß nicht selten zu den eben-
genannten oder zu andern alten Weibern Rantums und
examinirte sie über altfriesiche Sagen und Geschichten
oder horchte mit großer Aufmerksamkeit der Weisheit
Sieven Takens zu Rantum, welcher von altsylter
Landvögten abzustammen, und von denselben viele merk-
würdige Documente und Papiere geerbt zu haben behaup-
tete, welcher, obgleich er selber nicht schreiben konnte,
nur — wie man zu sagen pflegte — Krötenaugen und
Krähenfüße malte, dennoch stets zum Zeichen ſeiner gei-
stigen Thätigkeit und Genauigkeit eine Gänsefeder hinter
dem Ohre trug und sich sogar rühmte, daß er zuerst
Ordnung und Accuratesse in Rantum eingeführt habe.**)
Er war übrigens ein genügsamer und origineller Mann,
der Jedem ohne Unterschied und ohne Ausschmückung zu
sagen pflegte, was er eben dachte, durch welchen mithin
Mancher bittere Wahrheiten erfuhr. Als ich ihn das
lezte Mal in Rantum besuchte, war sein Haus in
dem Grade mit Flugsand überschüttet, daß das westliche
Ende desselben bereits in einer Düne steckte und nur das
östliche Ende noch sichtbar und vom Sande frei war.
---
*) Mein Vater war Schul- und Navigationslehrer in We-
sterland auf Sylt, ging aber an jedem Sonnabend-Nachmittage
nach dem eine Meile südlicher, auf Hörnum, gelegenen kleinen
Dorfe Rantum, um die dortige Jugend zu unterrichten.
**) Rantum ist der einzige, von Menschen noch bewohnte kleine
Ort auf Hörnum. Früher gab es der Dörfer dort mehrere und
größere; sie sind aber alle bis auf Rantum durch Sandflug und
Fluthen untergegangen.
[5]
Da die untere Hälfte seiner Hausthür eben des
Flugsandes wegen nicht mehr geöffnet werden konnte,
so sprangen wir Knaben über dieselbe in seine Wohnung
hinunter. — "Das ging gut," rief er uns entgegen —
"könnt ihr auch wieder hinausspringen, Jungens?" —
Wir versuchten es sofort, da wir merkten, daß der Alte
unwirsch war; allein es gelang uns nur nach mehrfäl-
tigem Stolpern und Stoßen. Nicht minder interessant
war mir der seltsame Marten Knuten von Amrum.
Wenn er die Offenbarungen Johannes oder die Ent-
stehung der Erde, der Länder, Meere und Fluthen
erklärte, dann sperrten wir Kinder Augen und Ohren,
Mund und Nase auf, vergaßen gänzlich die Gegenwart
und lebten nur in der Vergangenheit und Zukunft. Am
interessantesten aber waren mir stets das wilde Wesen,
sowie die abenteuerlichen Fahrten und Sagen der Maiken
Niß Taken zu Rantum. Sie war ein breitschulteriges,
schwarzhaariges, höchst abgehärtetes Mannweib, die Toch-
ter des Strandvogts Niß Taken. Sie kleidete sich und
benahm sich wie ein Matrose der alten Zeit, hatte aber
dabei ein gutes, redliches Herz und ein warmes Gefühl
für das Wohl und Weh ihrer Mitmenschen, aber einen
Ueberfluß an Aberglauben, wie ich sonst selten gefunden
habe. — Wie wunderlich übrigens auch gewöhnlich die
Erzählungen dieser genannten alten Dünenbewohner und
Bewohnerinnen sein mochten, so war doch manchmal
ein schöner Zusammenhang und selbst ein tiefer poeti-
scher oder religiöſer Sinn nicht selten in denselben zu
erkennen.
Eines Abends saß ich mitten zwischen diesen alten
mit Strickedrehen aus dem langen Dünengrase beschäftig-
[6]
ten Rantumern in der einsamen Hütte im Sumpfe und
hörte ihren Geschichten zu.*)
"Aae minj" — begann die alte Mei Aanken, deren
Gedächtniß sehr schwach war. —
"Wer war es, der in der alten Kirche sich selber
den Hals abschnitt?" —
"Das war ein Kämper, ein starker Mann" —
antwortete Maiken Niß Taken.
"Accurat, accurat! ein ächter Rantumer" — sprach
Steven.
"Aane morr," entgegnete Mei Aanken. — "Er
war kein Rantumer und auch kein Kämper, das weiß
ich."
"Er war ein Heide, wie Hans Kielholt schrieb,“ —
erklärte jetzt die bedächtige und religiöse Inge de Fries.
"Nein," — antwortete Mei Siemken: — "Er
war ein guter Christ und ein ächter Friese aus alter
Zeit; es war der alte schwermüthig gewordene Jens
Lüng, von Liſt.**) Mein Urgroßvater stammte aus
Ballum und dem hatte, als er jung war, eine alte
Frau auf List dieses und vieles andere offenbaret. Als
Jens Lüng auf List wohnte, kam einst (um 1362 ?)
ein fürcterlicher Sturm und ein so hohes Wasser, daß
ganz List unterging bis auf die Kirche und Jens Lüng's
Haus, und daß alle Leute auf List ertranken bis auf
---
*) Es iſt seit Jahrhunderten das Strickedrehen aus der
Sandrockenpflanze eine Hauptbeschäftigung und ein Haupterwerb
der Rantumer und Amrumer gewesen. Die Arbeit geschieht ge-
räuschlos blos mit den Händen; wobei denn Sagen u. dgl. erzählt
werden.
**) List ist ein kleines jetzt dänisches Dorf, auf der nördlichen
Halbinsel Sylts, hatte aber früher friesische Einwohner.
[7]
Jens Lüng und eie Jungfrau, Mett oder Merret.
(Seine Tochter Ellen und sein Sohn Jacob Lüng waren
damals noch nicht geboren.) Obgleich sonst keine Men-
schen mehr auf List waren, so gingen doch Jens und
Mett, die nun seine Frau wurde, Sonntags wie früher
zur Kirche. Da kein Prediger und kein Küster erschien,
denn auch diese waren ertrunken,*) so stimmte Jens
einen Geſang an und Mett hielt ein Gebet. So lebten
sie noch viele Jahre auf List in Gottesfurcht und Frie-
den. Als aber die Dänischen nun kamen und das
ganze Listland haben wollten, und zwei Fanöer an-
fingen , sich Häuser zu bauen auf Meelhörn und der
Sand die Kirche zu verschütten begann, da grämte sich
Jens fast todt. Nein, sprach er, ich halte es hier nicht
länger aus. Er brach ſeine Hütte ab, belud damit ſeinen
großen Ewer und mit ſeinen übrigen Sachen, nahm
auch aus der alten, später ganz im Sande untergegan-
genen Kirche auf List den Altar mit und segelte süd-
wärts nach Hörnum."**)
"Jaman !" — fiel Mei Aanken ihr jetzt in die Rede :
— "Da hat er ja den Altar aus der Kirche gestohlen," —
"Accurat!" — sprach Steven Taken: — "Er
hätte nach Artikel 47 des Landrechts gerädert werden
sollen." —
---
*) Es scheint, daß alle seit der Pest von 1350 noch übri-
gen Prediger auf Sylt 1362 ertrunken wären.
**) Jens Lüng war der letzte friesische Bewohner des List-
landes. Sein ehemaliger Stavenplatz ist noch sichtbar, liegt in
dem sogenaunten Jens-Lüngthal. Auch von den altfriesischen
Dörfern, Blidum und Bargſum sind noch Spuren in den Lister-
dünen. Selbst die alte Kirchstelle kennt man dort noch.
[8]
"Pfui Steven !" — sprach Maiken Niß Taken : —
"Hätte er denn den heiligen Altar den Dänischen lassen
oder ihn im Sande untergehen lassen sollen? Jch hätte
meiner Seele die ganze Kirche mitgenommen." —
"Du wärest auch ohne Zweifel gut davon gekom-
men, Maiken," — erwiderte Steven, — "besonders wenn
du den Teufel zum Freunde und Gehülfen gehabt ; denn -
mein Großvater Seliger, der Landvogt Steven Taken,
nach dem ich genannt bin, pflegte oft zu sagen: darüber
steht nichts im Landrecht, welche Strafe der haben soll,
der ein ganzes Haus oder Schiff oder eine Kirche oder
ein ganzes Land stiehlt. Also solche Diebe werden pri-
vilegirt sein." —
Inken Nessen wies ihn jedoch zurecht, indem sie
sagte: — "Du achtest wohl mehr auf deines Großva-
ters und anderer Menschen Gesetze als auf Gottes.
Weißt du denn nicht, daß in dem neunten Gebote Gottes
steht : Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus —
und in dem zehnten Gebote hinzugefügt wird: alles
andere, was sein ist? — Vor Gott ist kein Dieb
gerecht." —
"Ja doch gewiß der Stranddieb" — fügte Maiken
hinzu und sah dabei Steven, dessen Ehrlichkeit und Ac-
curatesse am Strande nicht immer Stand hielt, schelmisch
an ; — "denn der Stranddieb findet und nimmt ja nur,
was der rechtmäßige Eigenthümer verloren hat und nicht
wieder bekommt, und wenn der Eine es nicht nimmt,
so nimmt es ein Anderer." —
"Aae Gott! Wir sind allzumal Sünder und man-
geln des Ruhmes, den wir haben sollten ,“ — seufzte
Mei Aanken, —
[9]
Das Gespräch war jetzt bis zu einem Punkte vor-
geschritten, wo die Moral der Rantumer und anderer
Strand- und Dünenbewohner ein böses Loch hatte ; nur
die alte Mei Aanken, sonst die Einfältigste der Ge-
sellschaft, schien jedoch diesen Mangel lebhaft zu fühlen.
Auch die Uebrigen mochten indeß erkennen, daß es am
richtigsten sei, hier den Faden ihres kleinen Zwiespaltes
abzubrechen. Mindestens fand die weltkluge Mei Siem-
ken für gut, ihre Erzählung jetzt wieder anzufangen.
"Ob Jens Lüng damit, daß er den Altar der
Lister Kirche abbrach und das Altarblatt nebst den Al-
targeräthen mitnahm, als er von dannen zog, Unrecht
gethan habe, weiß ich nicht. Aber es schien — minde-
stens für ihn und seine Familie — kein Segen mehr
an dem alten Lister Altare zu sein. Er hatte im Sinne,
sich in dem Wardünthal auf Hörnum an der
Stätte, wo die alte Capelle zu Wardün *) ehemals
stand, ein Haus zu bauen und in dem Ostende seiner
Wohnung zur Verehrung Gottes für sich und seine Frau
und vielleicht auch für Andere seinen Altar wieder auf-
zurichten. Jedoch, als er, um kein Aufsehen bei den
Dänischen zu erregen, in der Nacht von List abgesegelt
war und längs der Westseite der Insel südwärts steuerte,
kam sein Schiff, während das Wasser gefallen war, in
der Dunkelheit dem Strande bei Alt-Rantum etwas
nahe und blieb da sitzen. Es würde übrigens dieser
Umstand wahrscheinlich den Rantumern unbekannt und
ohne Folgen geblieben sein, wenn nicht Jens Lüng
---
*) Der Name Wardün wird in Meiers Charten, (angeblih
von 1240) Wardin und Wardyn geſchrieben. Die Sylter nen-
nen den wahrscheinlih um 1300 untergegangenen Ort: Wardün,
aber auch Warding und sogar Wardus oder Warthuus. Ein
Thal nennen sie Dähl.
[10]
einen Hahn am Bord gehabt, der durch sein Krähen
in der frühen Morgenstunde die dem Strande zunächst
wohnenden Rantumer aus dem Schlafe geweckt hätte.
Sie eilten, sobald sie das gestrandete Schiff bemerkten,
an das Ufer und zu Jens an Bord, um ihm zu helfen,
sein Schiff leichter und wieder flott zu mahen. Sie
wußten freilich nicht, ob sie die Sache für eine Stran-
dung ansehen sollten, da sie dort keine Lichter noch
Fluthkälber als Vorspuk gesehen ; doch wollten sie Jens
überreden und sogar zwingen, seine Schiffsladung bei
Rantum ans Land zu bringen. *) Allein Jens Lüng
traute ihnen nicht, meinte, die Fluth würde sein Schiff
bald wieder flott machen; er war überdies ein großer,
starker Mann und wehrte die Rantumer ab, so gut er
konnte. Gleichwohl vermochte er nicht zu verhindern,
daß sie seine kostbarsten Altargeräthe, als silberne Leuch-
ter, Kelche, Schalen und dergleichen sammt seinem wach-
samen, schön gefiederten Hahn stahlen. Die Rantumer
hatten nie früher einen so schönen Vogel gesehen und
freueten sich anfänglich sehr über ihn. Sie sollen da-
mals 2 Kirchen (die Westerseekirche und die Rath-
burgskapelle) aber in vielen Jahren keinen Prediger
gehabt haben , lebten daher ungefähr wie die Heiden.
Als nun der Hahn sie alle Morgen durch sein Geschrei
zum frühen Aufstehen und zur Arbeit ermunterte, nann-
ten sie ihn ihren Prediger ; einige meinten sogar, daß
er sie zum Glauben an Gott und zum Gebet aufforderte,
indem er, wie sie wähnten, alle Augenblicke rief: „Kiek
---
*) Nach den Regeln der abergläubigen Rantumer galten
Lichter am Strande als Vorspuk für Strandungsfälle, die Fluth-
kälber als Vorspuk für Ueberschwemmungen; Likschnücken (Irr-
wische) als Vorspuk für Todesfälle u. s. w.
[11]
in de Höh, Höh !" — Manche von ihnen mögen wirk-
lich durch das unvernünftige Thier auf bessere Gedanken,
als sie früher hatten, gekommen sein; denn Gottes
Mittel und Wege uns Menschen zum Guten zu lenken,
sind ja oft wunderbar. Viele aber, die im Bösen be-
harreten, hasseten und verfolgten jezt eben seiner ver-
meintlichen Mahnungen wegen den armen Hahn.
Unterdeß war Jens Lüngs Schiff, als die Fluth
wiederkehrte, wirklich flott geworden ; Jens war weiter
südwärts und dann durch das Hörnumgatt in die
Bucht am Buder gesegelt und hatte sich endlich un-
weit Großvlie vor Anker gelegt. *) Jens Lüng be-
gann nun ungestört, aber auch ohne Hülfe, sein Schiff
auszuladen, und sein neues Haus im Wardünthal zu
bauen. Er schmollete auf die Rantumer, wollte nichts
mehr mit ihnen zu thun haben, verschmähete ihren Um-
gang und rechnete es ihnen besonders übel an, daß sie,
wie er gehört, in der Westerseekirche statt Gott zu
dienen, spielten und tanzten und aus den geweiheten,
ihm geraubten Gefäßen Bier soffen. Jm Uebrigen lebte
er mehrere Jahre in Ruhe und Frieden in seiner neuen
Wohnung im Wardünthale, diente Gott an seinem
eigenen Altar nach seiner eigenen Weise. Seine Frau
gebar ihm hier 2 Kinder, einen Sohn, welcher Jacob
und eine Tochter, welche Ellen hieß. Alles währet
aber seine Zeit und Jens Lüng's Ruhe und Glück auf
Hörnum währete nur kurze Zeit. — Der Pabst be-
kam zu hören, daß die Rantumer und die meisten Leute
---
*) Buder und Großvlie sind beſonders hoch- und östlich her-
vorragende Dünen oder Dünenecken auf der Halbinsel Hörnum.
Erstere ift südlicher; an dem Fuße des Buder ist eine gute
Rhede und war ehemals ein kleiner von Fischern und Seeräu-
bern viel benutzter Hafen, die Renne im Kressen Jacobsthale.
[12]
auf Sylt so gottlos und heidnisch und daß keine christ-
lichen Priester auf der Insel wären ; da schickte er Boten an
den König von Dänemark, daß derselbe möchte das geist-
liche Regiment über alle Kirchen auf Sylt in Ord-
nung bringen, der Pabst wolle alsdann für jeden Altar
der Kirchen einen Prediger senden. *) Nun kam Jens
Lüng daran zu denken: ich habe ja auch einen Altar,
die Päbstlichen könnten mein Haus mir nehmen und für
sich zu einer Capelle oder Wohnung einrichten oder die
diebischen Rantumer, die selber keinen unbefleckten Altar
in ihren Kirchen mehr haben, könnten den meinigen
mir rauben wollen. Da er diesen Letztern nun am
allerwenigsten seinen theuren Altar gönnte, so beschloß
er, um allen Verdrießlichkeiten vorzubeugen , der Kirche
zu Eidum, die nördlicher als die Westerseekirche
lag und nur einen kleinen sogenannten Marienaltar
hatte, den seinigen zu schenken und in Zukunft an dem
Gottesdienste in dieser, freilich von seiner Wohnung
etwas entfernten Kirche Theil zu nehmen. **) Seine
Schenkung wurde vollzogen und die Kirchen auf Sylt
erhielten wieder christliche oder päbstliche Prediger, die
Westerseekirche, die Eidumer, die Keitumer
und die Morsumer jede zwei Prediger ; außerdem soll,
wie Hans Kielholt meldete, für die untergegangene kleine
Kirche auf List oder vielleiht für die kleine däniſche
---
*) Hans Kielholt schrieb: „dat de Pavest durch sine Voll-
mächtigen gewesen is by den Koninklich Maj. mit fründliker
Beede, dat he dat geistlike Regiment över alle Kerken möchte
in een rechte Ordninge bringen, und de Kerken inwien laten —
welker Beede is dem Paveste georlauet.“
**) Eidum ist der alte Name von Westerland. Als Eidum
um 1436 untergegangen war, bauten die übrig gebliebenen Ein-
wohner das jetzige Westerland.
[13]
Colonie daselbst ein Prediger und ebenso für die zweite
kleinere Rantumkirche, die Kielholt die Rathburg's-
kirche nannte, auch damals ein Prediger gesendet wor-
den sein. Jn den vielfältig entweiheten und beschmutz-
ten Kirchen mußten nun große Reinigungen und Verän-
derungen vorgenommen werden. Auf die Altäre stellte
man die Bildnisse der Apostel , der Mutter Maria und
irgend eines Heiligen oder Papstes und ließ sie neu an-
streichen oder gar vergolden. Man machte sogar rohe
Versuche, durch hölzerne aber vergoldete Bilder die drei-
einige Gottheit selber darzustellen, und setzte diese mitten
unter die übrigen Statuen auf die Altäre. Dann wurden
die Altäre und Kirchen aufs neue geweihet und die letz-
teren jetzt erst mit Namen versehen. *) Das neugierige
und abergläubige Volk aber wurde aufgefordert, künftig
nicht bloß Gott und Jesum, sondern auch die Mutter
Maria , die heiligen Apostel und andere Märtyrer, ja
sogar deren Bildnisse anzubeten; widrigenfalls drohete
man mit Verbannung, Fegefeuer und höllischen Strafen.
Jens Lüng erfuhr übrigens wegen der einsamen Lage
seines Hauses von allem Diesem wenig. Gleichwohl
war er gottesfürchtig und heilsbegierig wie früher und
beschloß an dem nächstkünftigen Sonntage dem neueinge-
richteten Gottesdienste in der Eidumkirche beizuwohnen.
Auf seinem Gange nach der Kirche mag er vielleicht
auch gedacht haben, daß ihm wegen seines Altars große
Freude und Ehre zu Theil werden würde. Voller
Sehnsucht nach Gott und der Theilnahme an einer wür-
digen Gottesverehrung und voller Erwartung dessen, was
---
*) Die Westerseekirche wurde St. Peter, die Rathburgs-
kirhe St. Maria, die Eidumkirche St. Nicolai, die Keitumkirche
St. Severin und die Morsumkirche St. Martin genannt.
[14]
er sehen und hören werde, trat er in die Kirhe. —
Allein, wie bitter wurde er getäuscht! — Seinen Altar
erkannte er nicht mehr; der war nicht allein neu gemalt,
sondern gänzlich verändert worden, hauptsächlich durch
zwei rohe Figuren, welche man auf das Mittelſtück des
Altarblattes, Gott dem Vater und der Mutter
Maria zur Seite gestellt hatte und als zwei dänische
Heilige, nämlich: St. Jürgen und St. Niels bezeich-
nete. *) Er glaubte vor Aerger und Schande in die
Tiefe versinken zu müssen, sammt seinem Altare. Als
nun aber die bethörte Menge vor diesen Bildern nieder-
fiel und nach dem Beispiel und der Anweisung der Priester
bald die Mutter Maria, bald St. Jürgen und bald den
heiligen Niels anflehete und dabei allerlei wunderliche
Ceremonien den Priestern nachmachte, — da war das
Maaß des Entsetzens, der religiösen Entrüstung, welches
den frommen, schlichten Greis ergriffen hatte, voll. Als
endlich der, mitten unter der knieenden, im blinden
Götzendienst versunkenen Menge, allein stehengebliebene
Jens aufgefordert wurde, ebenfalls seine Knie zu beugen
vor den Heiligen und deren Bildern — da sprach er :
"Lebend nicht!" — zog ſein Messer aus der Scheide,
stieß es sich elber in die Brust und stürzte mitten in
der Kirche mit dem Ruf: "Lieber todt, als Sklave der
Priester!« — nieder. **)
---
*) Dieser Altar steht noch mit denselben rohen Figuren ge-
schmückt oder verunstaltet in der jetzigen Kirche zu Westerland
auf Sylt, ist im Jahre 1856 noch einmal mit großen Kosten
restaurirt, zum Theil neuvergoldet worden.
**) H. Kielholt schrieb: "Wente — — — da is en olt
Mann, de en Heide geweſen, darmank in de Kerke gestahn und
to gesehen, de heft sin egen Meſte genahmen und sick sülvest de
Kele utgesteken, darum dat he sick nicht mit dem nien Gloven
wolde beladen."
[15]
Es entstand jezt in unserer Gesellschaft ein tiefes;
ernstes Schweigen, welches mehrere Minuten anhielt, in
welcher Zeit mir die Thränen der Rührung über die
Backen in den offenstehenden Mund rollten und welches
Schweigen zuerst durch Maiken gebrochen wurde, welche
plötzlich ausrief: "Jens Lüng that Recht; ich hätte auch
so gethan!" —
"Jaman ! Maiken," — engegnete Mei Aanken : —
"Ist das Recht, sich selber das Leben zu nehmen und
gar in der Kirche?" —
"Justement !" — sprach Steven, — "Jens Lüng
that ohne Zweifel Recht; denn es steht nichts von
Selbstmord und gar in einer Kirche in dem alten Land-
rect. Was nicht verboten ward, ist erlaubt ; wie mein
Großvater sagte. — Aber Mei Siemken, du sprichst
wie ein Buch; deine Worte klingen, als ob sie aus
Wißbye stammten." *)
Mei Siemken, die gern für eine Friesin und zwar
Sylterin gelten wollte, wurde durch diese spöttische Be-
merkung Steven's an ihren dänischen Geburtsort Wis-
bye auf dem Festlande im nördlichen Schleswig erin-
nert, schmollte daher auf Steven und wollte an diesem
Abende nicht mehr erzählen.
Jch hielt unterdessen nicht auf, bald den Einen,
bald die Andere zu fragen, was denn aus Jens Lüng's
---
*) Ein Witz von Steven. Er wollte sagen: aus Witzdorf,
Klugdorf. Merret Siemons kam übrigens als Kind nach Sylt,
wurde hier erzogen und starb hier unverehelicht 95 Jahre alt.
[16]
Frau und Kindern geworden fei, bis Jnken Nessen mir
willfahrte und Mei Siemken's Erzählung fortsetzte. *)
"Ich habe oft gehört, daß in den Dünen Süden
von Niebelum eine alte fromme Frau, die Merret
hieß, gewohnt und daß sie zwei Kinder, eine Tochter,
die Ellen hieß und einen Sohn, der Jacob Lungsem
oder Leiert genannt wurde, gehabt habe; allein ich habe
nicht gewußt, daß sie die Frau des Jens Lüng von List
gewesen, jetzt aber zweifle ich nicht daran. Es ift so
schön, wenn man über die alten Geschichten unserer
Vorfahren Licht und Gewißheit bekommt, und es freut
mich, mein Söhnchen," — sie redete mic an, — "daß
du darnach strebst, und die alten Geſchichten gern hören
magst; vergiß sie nur nicht, wenn du groß wirst, sondern
schreibe sie auf. Mit Rantum ist es bald vorbei,
der Sand und das Wasser kommen uns immer näher,
und wenn wir Rantumer denn alle todt sind, so sind
wir auch vergessen, wenn dann nicht du oder sonst Je-
mand erinnerst und aufschreibst, was wir gethan und
gesprochen und erlebt haben. Darum mein Söhnchen,
lern’ du das Schreiben, was Niemand von uns, selbst
nicht einmal Steven, wenn er auch eine Feder beim
Ohr trägt, versteht; du sollst unſer Geschichtsschreiber
sein. Hörst du ?"
Steven fühlte sich gekränkt, räusperte sich, und
sprach: „Ich sollte nicht schreiben können? — Doch ich
habe Wichtigeres zu schreiben, als Lügen und Sagen
und Altweibergeschwätz. Mein Großvater Seliger, nach
---
*) Jnken Nessen hieß nah dem Westerländer Todten-Ver-
zeichnis von 1831 eigentlich (nach ihrem frühverstorbenen Manne)
Inken Nickels Knuten Fries, war 1808 schon Wittwe. —
[17]
dem ich genannt bin, der Landvogt Steven Taken,
pflegte zu sagen : Alle Bücher sollten verbrannt werden,
bis auf das Nordstrander Landrect und alles Bücher-
und Chronikschreiben sollte verboten sein; denn derglei-
chen verwirret nur die Leute und macht, daß sie das
Landrecht nicht mehr verstehen und achten und befolgen,
Der Junge wird ein Nichtsnutz werden, wenn er eure
Weisheit lernt und diese sammt allen euren Dummheiten
aufschreibt. Hör' Junge, wenn du nicht das Landrecht
studiren willst, so merk’ dir dieſe Regel: das ist der
beste Mann, der gut schweigen kann."
"Ha, ha, ha!" — lachte Maiken und sprach: —
"Ich füge hinzu: Steven ist ein schlechter Mann, weil
er gar nicht schweigen kann." —
"Jch für meine Person," — entgegnete Steven, —
"habe das Landrecht gründlich gelernt, brauche vor Nie-
mand zu schweigen. Gleichwohl achte ich den Grundsatz:
"Vehl weten unde weinig sagen," welcher mit
großen Buchstaben in der Keitumkirche steht, hoch,
und will ihn jetzt befolgen." *) —
"Inge de Fries konnte nun ungestört erzählen und
begann wieder: "Die fromme Wittwe im Wardün-
thal erzog ihre Kinder, wenn gleich in Dürftigkeit, in
Kummer und Sorgen, so doch zur Gottesfurcht und
Treue, zur Arbeitsamkeit und Sparsamkeit. Sie betete
alle Morgen und Abend und lehrte ihre Kinder auch
beten. Sie hatte eine Kuh und einige Schafe, spann
und strickte Wolle und machte Dachstricke aus dem
---
*) In dem Quergange an der Haupteingangsthür der Ge-
meinde in der Kirche zu Keitum steht mit erhabener Schrift ein
altsylter Kernspruch eingeschnitten, nämlich: Ein Meister is: Vehl
weten unde weinich sagen, nicht antworden up alle Fragen.
[18]
Dünenhalm grade wie wir, hielt auch ihre Kinder an-
zur Theilnahme an ihren Arbeiten und erzählte ihnen
Abends bei der Thranlampe von dem, was von Alters
her Gott und was die Menschen gethan, so wie wir ja
auch eigentlich nur von Solchem sprechen sollten, um
weiser und besser zu werden. Ja Gott stärke uns ! —
Ihre Tochter wuchs denn auch an ihrer Seite auf wie
ein junges Reis aus der Wurzel eines edeln Stammes,
wurde immer mehr das Ebenbild der Mutter. Der Sohn
aber war, wie es schien, ein wilder Zweig, war ein
schläfriger, träger und entweder nichts thuender oder
nach dem eigenen Kopfe sich beschäftigender Junge, mit
dem die Mutter nichts Rechtes und Gutes anfangen
konnte, ohne, daß er sich ihr widersezte, oder dabei ein-
schlief. Schickte sie ihn nach der Kuh. oder nach den
Schafen, so mußte sie nach einigen Stunden gewöhnlich
selber ins Feld gehen, um ihn zu suchen und sehr oft fand
sie ihn alsdann am Strande oder an einer Pfütze, sich
aus kleinen Holzstücken Schiffe zurechtschnitzend und sie
ins Wasser schiebend. Wollte sie ihn durch Ermahnun-
gen, durch Belehrungen oder durch Erzählungen zum
Guten leiten, ſo schlief er ihr ein. Wollte sie ihn strafen,
so widerſetzte er sich ihr ſogar. Sie hatte daher vielen
Kummer über ihren Sohn, und man nannte ihn auf
ganz Hörnum seiner Trägheit wegen Jacob Leiert oder
Jacob Lungsem ; Keiner aber zweifelte, daß er ein Nichts-
nütz werden würde. Er sprach selten und lachte niemals,
trieb gewöhnlich müssig und für sich allein in den Dü-
nen oder am Strande umher oder lag irgendwo und
schlief oder gaffte gedankenlos den Himmel oder das
Meer an. So wuchs er heran und mit seinen Kräften
wuchsen auch seine übeln Eigenschaften. Selbst der da-
[19]
malige Prediger in Rantum, Herr Albert, dem die
Wittwe ihre Noth mit dem Knaben geklagt, vermochte nicht
ihn zu ändern. Gott tröste alle Mütter, die solche Söhne
haben! Als Jacob größer wurde, stand er oft mitten in der
Nacht auf, ging ohne Wissen und Willen der Mutter aus
und kehrte erst gegen den Morgen wieder zurück. Keiner
wußte, wo er war und was er machte. Nur wenn die
Mutter bisweilen am Morgen ein Gericht frischer But-
ten oder Sandspieren , einen todten Hasen oder Vogel
in der Küche oder frishen Feuerungsvorrath auf dem
Heerde fand, fonnte sie schließen, wo Jacob in der
Nacht gewesen war. Dann schlief er aber auch um so
fester und länger am folgenden Tage. Er spielte oft
und gern mit einer kleinen weißen Katze, die nicht ei-
gentlich in das Haus seiner Mutter gehörte, sondern
von dem Dorfe Rantum bisweilen am Tage, doch
öfter in der Nacht herüberschlich nah Wardünthal,
und, wie die Schwester Ellen zu beobachten Gelegenheit
fand, ihn auf seinen nächhtlichen Streifereien begleitete.
Unterdeß war Jacob völlig erwachsen und wie sein Vater
groß und stark geworden, aber er setzte seine nächtlihen
Wanderungen fort, schien sie sogar auszudehnen, da er
immer später zurückkehrte. Zulezt blieb er ganz aus,
ohne daß Jemand wußte, wo er stecken mochte. Er
setzte dadurch seine Mutter und Schwester in große Angst
und Sorge seinetwegen, so daß die Letztere ihn überall
auf der Insel zu suchen begann. — Jn dieser Zeit ließen
sich, wie auch schon früher ab und zu, oft fremde
Fischer, Strand - und Seeräuber an der Südspitze der
Halbinsel Hörnum und in der Renne am Buder
sehen; sie kamen jedoch selten nach den Dörfern der Jn-
sel und hatten, soviel man wußte, bisher keinem Sylter
[20]
etwas zu Leide gethan. Eines Tages nun, als Ellen
nach ihrem Bruder suchte, wagte sie sich auch nach der
Südspize der Insel, in der Hoffnung ihn dort zu finden.
Es war aber gerade damals ein schwedisches Seeräuber-
schiff am Buder angekommen, ohne daß die Jungfrau
es wußte. Als nun die gottlosen Räuber das schöne
Mädchen an der Südspize der Halbinsel gewahrten,
wurden sie lüstern. Sie stiegen gleich ans Land, und
liefen nach dem armen, unschuldigen Geschöpf, welches
schühtern wie ein gejagter Hase bald sich unter einem
Halmbüschel zu verbergen suchte, bald weiter rannte nach
der Landspitze zu. Jn ihrer Angst sah Ellen sich um,
ob kein anderer Weg zu entkommen ihr übrig war, denn
sie stand schon an dem äußersten Ende der Jnſel; allein
es gab keinen mehr. Vor ihr das Meer, hinter ihr
die Räuber, die immer näher kamen und sie im nächsten
Augenblick umringen würden. Da dachte sie ohne
Zweifel an ihren Vater und sein Ende. Sie faßte sich
schhnell, befahl Gott ihre Seele, stürzte sich in die See
und ertrank vor den Augen ihrer geilen, erbarmungs-
losen Verfolger. Das war das traurige Ende der tugend-
haften Ellen, die lieber todt, als verführt oder die
Sklavin der Räuber sein wollte. —
Nach dieſem Verluste ihrer beiden Kinder glaubte
die alte einsame Wittwe sich zu Tode weinen und hun-
gern zu müssen; denn sie war nach gerade so alt und
schwach geworden, daß sie nicht mehr arbeiten und kaum
mehr aus- und eingehen konnte. Jedoch, als sie ihre
Gedanken nach dem erlebten Unglücke wieder etwas ge-
sammelt hatte, setzte sie ihr Vertrauen, wie früher stets,
auf Gott und begann wieder zu ihm zu beten um seine
Hülfe und seinen Segen. Sie hoffte, der liebe Gott
[21]
werde ihr gute Menschen zusenden, die sich ihrer erbar-
men und sie in ihren letzten Tagen versorgen würden.
Allein Gottes Wege sind nicht unſere Wege ; was ſie
gehofft hatte, geschah nicht. Wohl aber fand sich die
kleine weiße Katze, welche unterdeß groß und dick ge-
worden war, wieder in ihrem Hause ein, schmeichelte
ihr und streichelte sie und wich nicht mehr von ihrer
Seite, wie oft sie dieselbe auch zu verscheuchen ſuchte.
Nur wenn es Nacht wurde, die Alte zu Bette gegangen
war und schlief, schlich sich die Katze weg, fing Vögel
und Fische und trug diese der Wittwe ins Haus ; bis-
weilen schleppte sie auch Eier, die sie den Vögeln aus
den Nestern und selbst Hasen, die ſie den Jägern aus
den Schlingen genommen hatte, herbei. Auf solche
Weise ernährte das kluge und mitleidige Thier die alte,
fromme Wittwe im Wardünthale mehrere Jahre.
Diese erkannte darin eine Fügung Gottes und dankte
dem himmlischen Vater nun alle Tage für seine Gnade.
Die Jäger und Fischer aber waren neidisch und erbittert
auf die Katze, lauerten ihr auf und fingen sie zuletzt in
einer Schlinge. Da wollte zum zweiten Male die Alte
verzagen ; jedoch barmherzige Rantumer fanden sie eines
Tages halb verhungert und verpflegten sie nun bis zu
ihrem Tode."
Es entſtand jetzt wieder eine Pause in der Unter-
haltung, die von Mei Aanken zuerst unterbrochen wurde. —
"Aa watt en Gruul!“ — begann sie — „Jch bin
noch so entstellt über den Tod der armen Ellen, daß ich
von dem, was später erzählt wurde, nichts gehört habe.“
"Da habt ihr auch nichts verloren“ — entgegnete
Maiken — ; "denn was Inken von der Katze erzählte,
soll ganz anders verstanden werden. Inken's Kinder
[22]
kommen geschmückt und getauft zur Welt. Meine Er-
zählungen sind, wie der Pastor sagt, wilde Naturkinder,
aber sie sind wahr und unentstellt, grade wie man in
alten Zeiten dachte und sprach. Maren Wullis — ihr
wißt ja, daß sie etwas mehr konnte, als Brodessen und
daß sie vor ein paar Jahren hier draußen im Sumpfe
ihren Tod fand — ich versichere euch, ich habe es selber
gesehen, daß sie sich in einen Seehund verwandelt hatte
und vor einem Schiffe herschwamm, um dasselbe an den
Strand zu locken: — nun, diese glaubwürdige Frau
erzählte mir ein paar Tage vor ihrem Tode, als wir
bei dunkler Nacht mit einander von Westerland kamen
und nach Rantum gingen, was ich euch über die Katze,
von der Inken sprach, und von Jacob Leiert und
Anderen mittheilen will. Maren hatte es von meiner
Großmutter Maren Taken, nach der ich genannt bin,
und, welche auch die Kunst, Schiffe an den Strand zu
locken verstand. Jch habe die Pantoffeln, mit welchen
meine Großmutter Stürme zu machen pflegte, nach ihr
geerbt und noch im Besitz; allein ich verstehe dieselben
nicht wie sie zu gebrauchen. Meine Großmutter aber
soll die Geschichte, die ich euch erzählen will, gelesen
haben aus einem alten Hexenbuche, welches die berühmte
Zauberin Anna Truels, die auf Nordstrand verbrannt
wurde, *) geſchrieben hatte und welches Buch meiner
Großmutter von einer alten Bettlerin aus Duntsum
auf Föhr, welche wie früher so viele Föhringer Hexen
oft nah Sylt kam, geliehen war. Das ist beim
Raben wahr!"
---
*) Sie soll um 1566 verbrannt worden sein.
[23]
Nach dieser Einleitung waren wir Alle — vielleicht
mit Ausnahme von Inge de Fries, welche jetzt zu
schmollen schien — begierig, - Maiken Niß Taken's Er-
zählung zu hören. Maiken begann also : "Jch versichere
euch, es war keine Katze, die nach Jacob Lungsem lief,
mit der er spielte, und die nachher seine Mutter, die
alte Merret, versorgte, sondern" —
In diesem Augenblick entstand ein Geräusch draußen
unter den Fenstern der Stube, als ob eine wirkliche
Katze in großer Noth wäre und in der Angst ihres
Herzens erbärmlich miaute. Wir sahen alle natürlich
sofort zum Fenster hinaus, aber gewahrten nichts als
die finstere Nacht und ein, bald stille stehendes, bald auf
dem Sumpfe umher schwankendes Licht.
"Uu de Loghterman !" — schrieen Mehrere von
uns. — "Nein" — sprach Maiken — "wenn man von
dem Teufel gesprochen hat, pflegt er nicht weit zu sein.
Es ist Maren Wullis Geist, der keine Ruhe findet und
als Gespenst wiederkehret, vielleicht um zu bezeugen, was
ih euch sagen wollte. Sehet ihr nicht, wie das Licht
gerade von der Stelle im Sumpfe, wo ihre Leiche vor
3 Jahren gefunden wurde, herkommt und sich nach die-
sem Hause bewegt ?" —
Es entstand ein Augenblick peinlicher Erwartung
und abergläubiger Angst unter uns, die selbst Steven
nicht verbergen konnte. — Es lösete sich jedoch bald
das Räthsel. — Mein Vater trat mit strenger Miene,
eine brennende Laterne in der Hand haltend, in die
Stube. Die erſchrockene Katze des Hauses war schon
vor ihm hereingeschlichen. Mein Vater erinnerte uns
[24]
alle daran, daß es gegen 10 Uhr in der Nacht, mithin
Bettzeit sei, und befahl mir , ihm sofort nach dem hei-
mathlichen Dorfe Westerland und nach Hause zu folgen.
Es war mir nicht möglich , 8 Tage oder bis zum
nächstfolgenden Sonnabend - Nachmittage, an welchem
mein Vater wieder zur Belehrung und Prüfung der
Jugend nach Rantum ging, zu warten, um ihn als-
dann dahin zu begleiten ; sondern die Sehnsucht nach der
versprochenen Erzählung Maikens trieb mich an, bereits
am nächstfolgenden Tage, also am Sonntag Nachmittage
auf eigene Faust nach Rantum zu gehen. Jch fand
in der Hütte im Sumpfe, welche eigentlich zwischen
Westerland und Rantum, jedoch näher an Ran-
tum lag, wieder dieselbe Gesellschaft bis auf Steven
Taken, der sich an Sonntag Abenden einen Rausch in
Tinnum oder Westerland zu holen pflegte, vor.
Nachdem die drei frömmeren Hausbewohnerinnen ihren
nachmittäglichen Gottesdienst beendigt hatten, begann
Maiken zum zweiten Male ihre Erzählung. *)
"Die mitleidige Kaze, von der uns gestern Abend
erzählt wurde , war meiner Seel eine Hexe, war ein
schönes Mädchen aus Rantum, welches jung schon die
geheime Kunst, sich in eine Katze oder in ein anderes
Thier zu verwandeln und den jungen Männern etwas
anzuthun, gelernt hatte, Sie spielte als Katze mit dem
---
*) Maiken wohnte, sowie auch Steven südlicher, in dem
eigentlichen Dorfe Rantum, kam aber des Abends oft mit den
übrigen 3 Weibern zusammen. Sie gebrauchte beim Erzählen
selten Flüche und Flickwörter wie viele andere Rantumer, sagte
aber statt "de" immer "da."
. .
. .
. .
[147]
Haidedörfer: Ich schrieb, ordnete und ergänzte nun in
der sylterfriesishen Mundart, was ich dort und sonst
nachträglich noch gefunden hatte an heimathlichen Tradi-
tionen. Diese vorzugsweise Norddörfer Sagen
werden in friesisher Sprache unter dem Titel "Uald
Söldring Tialen" wahrscheinlich eheſtens für sich
im Druck erscheinen. Die Sagen und Erzählungen der
Haidebewohner auf Sylt, welche in diesem Buche
als zweiter Theil desselben nunmehr folgen, sind aber
die fast wörtlichen Übersetzungen der vier ersten der
"Uald Söldring Tialen" (Alte Sylter Erzählungen).
Das mangelhafte Deutsch dieser Übersetzungen wolle
der Leser damit entschuldigen, daß ich den friesischen Text
aus guten Gründen möglichst treu ins Deutsche über-
setzen wollte. Meine Gründe dafür waren : Jch wollte
eben durch eine treue Übersetzung die Leser dieses Buches
auf den friesischen Text der Norddörfer Sagen aufmerksam
machen, den nichtfriesischen Lesern der "Uald Söldring
Tialen" aber das Verständniß derſelben erleichtern.
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Sagen und Erzählungen der Haidewohner
auf Sylt.
Es war einst ein Schiff, das segelte nach England.
Unterweges kam ein starker Sturm, daß die Schiffsleute
ängstlich wurden und dachten, sie sollten zu Grunde
geben. Jn der Nacht wurde das Steuerruder unklar.
Sie sahen über Bord und wurden gewahr, daß ein
großer Mann seinen Kopf aufsteckte aus dem Wasser
dicht bei dem Ruder. Sie fragten ihn, was er wolle.
— "Ich will den Schiffer sprechen" — antwortete er.
Die Schiffsleute riefen den Capitain. Der Capitain kam,
sah auch über Bord, und fragte den Mann: "Wer bist
du? Was willst du?" — Jch bin der Meermann,
mein Weib soll ins Wochenbett, und verlangt, daß dein
Weib kommt, um ihr zu helfen bei der Geburt." —
"Meine Frau schläft, sie kann nicht kommen," antwortete
[149]
der Schiffer. — "Sie muß kommen!" – rief
der Meermann, — "sonst macht meine Alte noch mehr
Spectakel, noch ärgeren Sturm und Seegang, und ihr
geht allesammt zu Grunde." — "Jch will gleich kommen,"
— rief des Capitains Frau, die alles gehört hatte. —
"Man muß Niemanden in Noth lassen, dem man helfen
kann." — Sie sprang über Bord zu dem Meermann,
und ging mit ihm hinab zum Meeresgrunde. — Der
Sturm war vorbei, die See ward ruhig. — Unterdessen
hatte der Schiffer große Sorge um seine Frau , aber es
währte nicht lange, da hörte er so lieblich "Heia,
heia, hei!" *) tief unten in der See singen , und die
Wellen gingen so eben auf dem Wasser, als wenn die
ganze See wie eine Wiege geschaukelt würde, —
"Aha !" — dachte er — "das Kind ist schon geboren,
das ist gut gegangen." — Es dauerte keine Stunde,
da kam die Frau des Schiffers wieder auf aus der See
und glücklich zurück an Bord. Sie war kaum einmal naß
geworden, hatte den Schooß (die Schürze) voll von Gold
und Silber und hatte viel zu erzählen. — Das Meer-
weib hatte ein Kleines gehabt, ein Ding, was wir auf
Sylt ein Seekalb nennen, aber die Meerfrau meinte,
es wäre so schön wie ein Engel. Der Meermann war
so froh geworden, daß er der Frau des Schiffers so viel
Gold und Silber verehrt hatte, als sie tragen konnte.
Der Schiffer hatte nun guten Wind, machte seine
Reise schnell ab, und segelte wieder heim mit seinem
Weibe und Gelde nach Sylt. Allein, wenn er später
wieder ausfuhr zur See, dann ließ er allezeit sein Weib
zu Hause bleiben in Rantum, wo sie wohnten.
---
*) Den altfriesischen Wiegengesang.
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Viele Jahre nachher, als das Meerweib so alt und
faltig wurde, dachte der Meermann noch oft an des
Schiffers schöne und mitleidige Frau. Er beschloß, sein
altes Hauskreuz zu verlassen, den Schiffer mit einem
Sturm zu überfallen und zu ersäufen und dann die
schöne Wittwe zu freien; aber es fiel ihm nicht ein,
daß die Frau des Schiffers inzwischen auch alt ge-
worden war.
Einſt sah er das Rantumer Schiff wieder über See
kommen, da dachte er: nun ist es meine Zeit. Er sagte
zu seinem Weibe: "ich will hin, um Heringe zu fischen,
du mußt Salz mahlen zu der Heringslauge, bis ich wieder
komme." *) — Denn er wußte, dann machte sie einen
gräulichen Lärm in ihrem Hause beim Meeresgrunde.
Als der Sylter Schiffer in ihre Nähe kam, so war
dort ein solcher Mahlstrom in dem Wasser, daß er mit
sammt seinem Schiffe, mit Mann und Maus versank.
Unterdessen schwamm der Meermann nach Sylt
und ging ans Land auf Hörnum. Er spazierte längs
dem Strande und dachte an das Weib des Schiffers.
Gegen Abend kam ihm ein Mädchen entgegen, eben beim
Küssethal. *) Er meinte, es wäre die Frau des
Schiffers, aber es war seine Tochter , die ihrer Mutter
sehr ähnlich war. Er hatte sich ganz und gar verwandelt,
hatte sich angetakelt wie ein Sylter Seefahrer, aber ge-
behrdete sich wie ein Nachtschwärmer, und begann zu
dem Mädchen mit eins (sofort) zu freien. — Sie wurde
verlegen und bange vor ihm, aber er setzte ihr einen
---
*) Von dem Salzmahlen der Meeresfrau (Ran) soll die
ganze See zuletzt salzig geworden sein.
**) Auf Sylterfriesisch : Taatjemglaat
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goldenen Ring über jeden Finger, band ihr eine goldene
Kette um den Hals, und sagte: "Nun habe ich dich ge-
bunden, nun bist du meine Braut." — Sie weinte und
bat ihn, er solle sie gehen lassen, aber sie gab ihm doch
nicht seine goldenen Ringe und seine Kette zurück. Er
sprach zu ihr :
"Ich mag dich — muß dich haben!
Magst du mich? — Sollst mich kriegen.
Willst du eck (nicht): — kriegst mich doch;
Mittewoch — haben wir Gelag.
Doch kannst’ sagen — wie ich heiß’;
Dann bist’ frei — meiner los." —
Auf Sylterfriesisch:
Jk mei di — mut di haa !
Meist dü mi? — Skedt mi faa.
Wedt dü ek — feist mi dagh.
Med ön Week — haa wat Lagh,
Man kjenst sii — wat ik jit,
Da best frii — best mi quit.
Darauf ließ er die Jungfrau gehen. Sie gelobte
ihm, sie wollte ihm den folgenden Abend Bescheid thun,
aber sie dachte, ich bekomme wohl irgendwo zu wissen,
wie der Freier heißt. Doch überall wo sie fragte, kannte
man ihn nicht. — Sie ging den folgenden Abend wieder
am Strande und weinte; sie ging in Gedanken immer
weiter, bis sie zu Thorsecke (auf Hörnum) kam. Da
kam es ihr vor, als wenn sie in dem Berge jemanden singen
hörte. Sie blieb stehen und horchte. Da hörte sie
deutlich ihres Freiers Stimme. Er sang :
"Heute soll ich brauen ;
Morgen soll ich backen ;
Übermorgen will ich Hochzeit machen.
[152]
Jch heiße Ekke Nekkepenn,
Meine Braut ist Inge von Rantum,
Und das weiß Niemand als ich allein."
Sylter:
"Delling skel ik bruu;
Miaren skel ik baak;
Aurmiaren wel ik Bröllep maak.
Jk jit Ekke Nekkepen,
Min Brid es Inge fan Raantem,
En dit weet nemmen üs ik alliining."
Als sie das hörte, da wurde sie froh. Sie kehrte
sogleich zurück zum Küssethal und erwartete ihren Freier
dort. Es währte nicht lange, da kam er auch. Sie rief
ihm zu: "Du heißt Ekke Nekkepenn und ich bleib
Inge zu Rantum." — Dann lief sie schnell nach Hause
mit ihrer goldenen Kette und ihren Ringen, und er
war genarrt.
Seit der Zeit war der Meermann böse auf alle
Rantumer. Er machte ihnen Schabernack und Un-
glück, wo er nur konnte. Er überfiel ihre Schiffe und
Seeleute mit Sturm und jagte sie in den Grund zu
seinem alten Weibe, welches sie fing in ihren Netzen,
aber auch noch ab und zu Kinder gebar und Salz mahlen
mußte, wenn Ekke eine lustige oder weitläufige Periode
hatte. Er spolirte zuletzt der Rantumer Land und Häuser
ganz und gar durch Sand und Fluth, wie solches noch
auf Hörnum zu sehen ist.
---
Einst hatte Ekke zu hören bekommen, daß
ein anderer kleinerer Menschenschlag als die Ran-
tumer auf dem Nordende von Sylt wohne. Er
dachte, er wolle sein Glück mal bei demselben versuchen.
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— Als die Friesen zuerst nach Sylt gekommen
waren, hatten sie die kleinen Leute, die schon vor ihnen
da gewesen, nordwärts gejagt nach der Haide und den
unfruchtbaren Stellen und hatten sie da wohnen lassen.
Die kleinen Leute, die wohl zu den Finnen oder
Kelten (Celten) gehört haben, krochen in die Hügel
und Höhlen auf der Haide und in das Gebüsch, welches
damals viele Niederungen im Norden von Braderup
füllte. Sie hatten rothe Mützen auf dem Kopfe, lebten
mehrentheils von Beeren und Schaalthieren , (z. B.
Haidebeeren und Miesmuscheln), fingen auh wohl Fische
und Vögel und sammelten Eier. Sie hatten steinerne
Äxte, Messer und Streithämmer, die sie sich selber schliffen,
und sie machten auch Töpfe aus Erde oder Thon. Sie
waren arm aber allezeit fröhlich. Sie sangen und
tanzten oft beim Mondschein auf ihren Hügeln oder
Häusern, aber sie waren falsch, arbeiteten wenig
und stahlen, all wo sie was bekommen konnten, sogar
Kinder und schöne Frauenzimmer. Daher mußten die
Friesen, welche nahe bei der Haide wohnten, stets wachende
Augen haben und aufpassen, daß ihre Weiber und
Mädchen nicht gestohlen, und ihre Kinder nicht ver-
wechselt wurden von den Unterirdischen (Ön-
dereersken) — so nannte man solche, welche unter
der Erde in den Hügeln wohnten. — Die Einzelnen,
welche sich in den Gebüschen und später in den Häusern
aufhielten, wurden Puken genannt; eine Schlucht im
Nordost von Braderup heißt nach ihnen noch jetzt das
Pukthal. Sie waren übrigens allesammt Heiden,
konnten hexen und verwandelten sich oft in Mäuse und
Kröten. Sie hatten eine beſondere Sprache, aber es
scheint, als wenn sie später viel von der Sylter Sprache
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